Christian Tetzlaff
Artist in Residence 24.25
Ganz besonders begrüßen wir unseren Artist in Residence Christian Tetzlaff für die anstehende Saison.
1966 in Hamburg geboren, lebt er inzwischen mit seiner Familie in Berlin. Was den Musiker so einzigartig macht, sind vor allem drei Dinge: Er nimmt den Notentext wörtlich, er versteht Musik als Sprache und er liest die großen Werke wie Erzählungen.
Konzerte mit Christian Tetzlaff
Interview
Christian Tetzlaff im Gespräch mit Dramaturgin Adriana Kussmaul
Lieber Christian, was fällt dir spontan dazu ein…?
…drei Wörter zu Potsdam? Meine Mutter, der große Friedrich und Antje Weithaas.
…drei Erinnerungen an deinen letzten Besuch bei der KAP? Beethovens Violinkonzert mit Antonello Manacorda, die Individualität der einzelnen Musiker*innen und das starke Bedürfnis nach einem gemeinsamen, erzählenden Musizieren.
…drei Charaktereigenschaften, die dein Instrument beschreiben? Sinnlich, kraftvoll und flexibel.
…drei Komponist*innen, die du zurzeit besonders gerne spielst? Zurzeit heißt bei einem schon immer, nämlich Johannes Brahms. Der Nächste wäre Edward Elgar, da ich mich gerade sehr intensiv mit seinem Violinkonzert beschäftige. An dritter Stelle könnte ich jetzt noch mindestens 15 weitere Namen nennen.
…drei Rituale vor einem großen Auftritt? Meistens die Fünf Tibeter, einen Cappuccino, möglichst zwei bis drei Stunden vor dem Konzert, und eine Kleinigkeit essen, etwa eine Stunde vorher.
…drei Gefühle nach einem großen Auftritt? Wo ist das Bier? – das ist eigentlich immer mein erstes Gefühl. Das schnelle Abklingen der Trance – etwa eine halbe Stunde nach dem Konzert bin ich wieder Christian, der Familienvater. Und ganz klar: Glück.
…drei Freizeitbeschäftigungen? Kochen, Zeit mit der Familie verbringen und Urlaub.
Du bist seit Jahrzenten einer der gefragtesten Solisten weltweit. Ab wann war für dich klar, dass du Geiger werden willst?
Mit 11 Jahren. Ich habe damals gerne Geige gespielt. Zwar habe ich sehr wenig geübt, dann jedoch angefangen, in einem Jugendorchester zu spielen und das war für mich das Größte. Mit 11 Jahren durfte ich erstmals bei einer Sinfonie von Tschaikowski mitspielen, mit 12 Jahren folgte Brahms‘ Sinfonie Nr. 3, mit 13 Jahren Mahlers Sinfonie Nr. 9 – da wusste ich: Das ist meine Erfüllung! Auch die soziale Komponente, die durch das gemeinsame Musizieren entsteht, gefiel mir sehr. Trotz dieser wunderbaren Erfahrungen im Orchester wollte ich Sologeiger, also Solist werden, was natürlich mit dem wenigen Üben zunächst überhaupt nicht zusammenpasste. Mit 15 Jahren habe ich einmal drei Stunden am Tag geübt und war wahnsinnig stolz. Entsprechend war ich in diesem Alter noch nicht übermäßig weit, dennoch lief es zunehmend besser, vor allem, da die große Lust am Geigespielen immer da war.
Hast du dir irgendwann die Frage gestellt, doch etwas anderes zu machen? Nein, nie. Ich bin sehr glücklich, dass mir diese Sinnsuche erspart geblieben ist. Wie gesagt, ich habe im Teenageralter immer im Orchester gespielt, dann aber mit 18 Jahren den zweiten Preis beim ARD-Wettbewerb gewonnen und gemerkt, dass mein Wunsch, Sologeiger zu werden, doch nicht ganz unrealistisch ist – und so ging es dann los. Zuvor gab es natürlich auch andere Berufe, die mich interessiert haben, wie zum Beispiel Koch oder Lehrer. All das mache ich heute: kochen, unterrichten und Geige spielen. Wenn ich jetzt nicht mehr spielen könnte, würde ich wahrscheinlich noch eine Ausbildung zum Masseur machen, da mich die Verbindung von Körper und Seele fasziniert.
Für das erste Programm deiner Residenz im September hast du Musik von Joseph Haydn und Jean Sibelius zusammengestellt. Gibt es eine Verbindung zwischen den Werken? Was die Werke in diesem Programm verbindet, ist ihre Unbekanntheit. Kaum jemand kennt das Violinkonzert in A-Dur oder die Sinfonie Nr. 80 von Joseph Haydn, kaum jemand hat je die Humoresken von Jean Sibelius im Konzert gehört und dabei sind das alles wunderbare Stücke von Meistern auf der Höhe ihrer Kunst.
Bei dem Konzert wird kein*e Dirigent*in dabei sein, die Leitung aller Werke übernimmst du selbst. Hast du in solchen Programmen eine andere Verbindung zum Orchester? Spürst du eine andere Energie? Ja, absolut. Das Orchester ist ein bisschen fokussierter, da es eben keine*n Dirigent*in gibt, die/der alles bündelt und aufzeigt. Der ganz logische und positive Effekt ist, dass man noch mehr auf der Stuhlkante sitzen muss, damit das Zusammenspiel klappt. Bei allen steht der Gedanke, für alles mitverantwortlich zu sein, im Vordergrund. Man darf die Schwarmintelligenz nicht unterschätzen, denn bei dieser Art des Zusammenspiels passieren manchmal Dinge, die überhaupt nichts mehr mit dem Visuellen zu tun haben, sondern nur aus dem Ohr herauskommen und dadurch eine ganz natürliche Richtigkeit haben.
Im Januar bist du, gemeinsam mit den KAP-Musiker*innen, bei einem Kammermusikabend zu hören. Welchen Stellenwert hat das gemeinsame, kammermusikalische Musizieren für dich? Wenn man überlegt, welche die größten Werke sind, die Komponist*innen geschaffen haben, dann würde Beethoven selbst vielleicht sagen: „Meine Streichquartette in a-Moll und cis-Moll sind wahrscheinlich die größten und gewagtesten Dinge, die ich in meinem Leben angegangen bin“. Natürlich ist beispielsweise auch seine Sinfonie Nr. 9 ein Meisterwerk, aber was das reine Komponieren, die Intimität und manchmal auch die ungebündelte Aussagekraft in Richtung des Publikums betrifft, so findet man das eher in der Kammermusik. Die Kammermusik ruft in mir die tiefste Reaktion und größte Verantwortung hervor und es ist unglaublich, was die Komponist*innen uns in diesen Werken erzählen und welche Gefühle darin hörbar werden.
…und was erzählt uns Schubert in seinem Oktett? Hier haben wir einen Sonderfall, da das Stück eine Kopie des Beethoven Septetts ist. Es ist ein Phänomen, dass Schubert eine grandiose Eigenschöpfung machen und sich gleichzeitig auf jemand anderen beziehen konnte. Das spricht von Souveränität. Wenn ich von der Intimität in der Musik spreche, so trifft das auf dieses Werk nicht unbedingt zu. Die Musik geht eher in Richtung eines Divertimentos, also Unterhaltungsmusik auf ganz hohem Niveau. Es ist ein Stück mit riesigem Spielspaß, bei dem sich jedes Instrument wunderbar darstellen kann, ohne, dass es flach wirkt. Anders ist das in Brahms‘ Streichquintett in G-Dur, das ursprünglich sein letztes Werk werden sollte, wie er selbst seinem Verleger mitteilte. Da geht es im langsamen Satz unheimlich zur Sache, nach innen und in eine Tiefe, die den großen, reifen Brahms zeigt – ein wunderbarer Kontrast zum heiteren Schubert.
In einem Interview (concerti) hast du gesagt: „Es wird viel zu oft einfach nur gegeigt“. Ich finde, dass die meisten Stücke uns wirklich einen ganz genauen Ausdruck von einem Gefühl, einer Geschichte oder einem Ablauf geben. Leider wurde es den Geiger*innen vor allem in den 1960er- und 70er-Jahren abtrainiert, wie beim Sprechen die Stimme abfallen zu lassen oder zu phrasieren. Nur der fette, schöne Ton stand im Vordergrund. Erzählende Moment im Spiel, wobei jede Note ihr Gewicht hat, hört man jetzt glücklicherweise wieder mehr, lange Zeit war es aber gegenteilig. Das war ein Trauerspiel, weil so nur noch „Stücke für schönen Ton und Orchester“ erklangen und schnell vergessen wurde, was die Komponist*innen uns eigentlich mitteilen wollten.
Das diesjährige Saisonthema der KAP ist „Beziehungen“. Was bedeutet der Begriff für dich? Beziehungen passieren zwischen Menschen. Ohne Beziehungen, ohne Zuhören, ohne Wahrnehmung der anderen auf der Bühne kann nichts funktionieren. Dann ist man nämlich weder in einer Beziehung zur Musik noch zum Komponisten. Als Solist oder Kammermusiker möchte ich vermitteln, was die Komponist*innen uns mitteilen und stehe somit in einer Beziehung zu ihnen und zu ihrer Musik, aber auch zu den anderen Musiker*innen auf der Bühne und natürlich zum Publikum. Ich verstehe Konzerte oder Auftritte als eine Beziehung zur und keine Bewältigung der Musik. Musizieren bedeutet, lebendige Beziehungen hörbar zu machen. Beziehungen sind das Wesentliche in unserem Leben, wenn wir erfüllt und glücklich sein wollen – auf der Bühne und zu Hause.
Die Artists in Residence der KAP
Seit 2015 laden wir für jede Saison einen ganz besonderen Gast zu uns ein: den "Artist in Residence", mit dem wir im Verlauf der Saison verschiedene musikalische Projekte durchführen. Gern probieren wir dabei neue Formate aus oder suchen gemeinsam andere Formen der künstlerischen Inspiration und Weiterentwicklung.
Die Idee, für jede Saison mit einem “Artist in Residence” zusammenzuarbeiten, entstand aus dem Anliegen, dem Orchester vertiefte künstlerische Begegnungen mit ausgewählten Gästen zu ermöglichen. Unser jeweiliger „Artist in Residence“ kommt im Verlauf einer Saison für verschiedene Projekte und Programme nach Potsdam. Die Auswahl der Kandidat*innen geschieht gemeinsam mit dem Orchester, dem künstlerischen Leiter und der Geschäftsführung. Besonderen Wert legen wir dabei auf Repertoire-Breite, verschiedene künstlerische Facetten, auch einen Wechsel in den Instrumental-Farben, Interesse an Kammermusik und neuen Formaten.
So konnten wir seit der Saison 15.16 so herausragende Künstler wie Veronika Eberle, Kristian Bezuidenhout, Andreas Ottensamer, Steven Isserlis, Jörg Widmann, Anna Prohaska, Václav Luks und Anna Vinnitskaya gewinnen. Bei aller Unterschiedlichkeit ist allen eine große Neugier auf Begegnung gemein, der künstlerische Austausch, die gegenseitige Inspiration, die Lust an Kommunikation. Häufig kann man förmlich spüren, wie sich im Orchester die Energie bei jeder einzelnen Musikerin und jedem Musiker verändert und dadurch wieder neue Ideen und Vorhaben entstehen.
Unsere Artists in Residence
- Saison 15.16: Kristian Bezuidenhout
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- Saison 16.17: Veronika Eberle
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- Saison 17.18: Andreas Ottensamer
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- Saison 18.19: Steven Isserlis
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- Saison 19.20: Antoine Tamestit
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- Saison 20.21: Jörg Widmann
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- Saison 21.22: Anna Prohaska
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- Saison 22.23: Václav Luks
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Václav Luks, Foto: Petra Hajsk